Ob eine Region unter- oder überdurchschnittlich hohe Erkrankungsraten im Vergleich zu Niedersachsen aufweist, kann ganz verschiedene Gründe haben. Individuelle Erkrankungsrisiken werden durch eine Vielzahl von Einflussgrößen und deren Zusammenwirken bestimmt. Neben dem Lebensalter als größter nicht veränderbarer Risikofaktor können Unterschiede in der Lebensweise und anderen Merkmalen (z. B. frühere Exposition gegenüber Sonneneinstrahlung oder Stoffen am Arbeitsplatz), Umwelteinflüsse, Infektionen oder erbliche Faktoren ausschlaggebend sein. Weitere Gründe sind in Unterschieden bei der Registrierung, der Diagnostik und dem Zugang zur Gesundheitsversorgung (z. B. aufgrund von Unterschieden im sozioökonomischen Status) denkbar. Bei vielen Krebserkrankungen sind die Risikofaktoren noch nicht abschließend geklärt.
Zu den Hauptrisikofaktoren von z. B. Darmkrebs zählen Übergewicht und Rauchen. Es können aber auch unterschiedliche Teilnahmeraten an Screening-Programmen eine Rolle spielen: Bei der Darmkrebsfrüherkennung werden oft Vorstufen von Darmkrebs gefunden, die sich bei frühzeitiger Behandlung nicht mehr zu einem bösartigen Tumor entwickeln können. Dadurch kommt es zu einer Absenkung der Fallzahlen. Bei anderen Früherkennungsuntersuchungen, zum Beispiel im Rahmen des Mammografie-Screening-Programms, ist eher mit einer Erhöhung der Fallzahlen zu rechnen. Grund dafür sind Diagnosen von Tumoren, die ohne das Screening nie entdeckt worden wären. Stets ist jedoch auch damit zu rechnen, dass Abweichungen vom Landesdurchschnitt keine Ursache haben, sondern durch Zufall bedingt sind. Der Einfluss des Zufalls ist umso größer, je seltener eine Krebsart ist und je kleiner die Bevölkerung der jeweiligen Region ist.
Beobachtete Unterschiede der Krebsneuerkrankungsraten können also verschiedene Gründe haben:
Unterschiede bei der Verteilung der Risikofaktoren (Lebensstil, Genetik, Umwelt)
Unterschiedliche Früherkennungsaktivitäten (im Rahmen organisierter Krebsfrüherkennungsprogramme und opportunistisch)
Unterschiedliche diagnostische Intensität in der kurativen Versorgung
Mögliche regionale Meldedefizite
Zufallsbedingte Schwankungen
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass alle in den Karten dargestellten Werte auf einem Nebeneinander und Zusammenwirken vieler Einflussfaktoren beruhen. In welchem Ausmaß die Faktoren zum konkreten Wert einer ReBe beitragen, kann aus den Karten nicht abgeleitet werden. Stets ist zu berücksichtigen, dass potenzielle Ursachen mit Verzögerung epidemiologisch wirksam werden. Die Latenz kann insbesondere bei Lebensstil- und Umweltfaktoren mehrere Jahrzehnte betragen. Bei regionalen Risiken, die erst seit einigen Jahren wirksam sind, kann also nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich auf epidemiologische Durchschnittswerte der letzten 5 oder 10 Jahre auswirken.
Räumliche Glättungsverfahren und die Bildung von Durchschnittswerten über mehrere Jahre reduzieren den Einfluss des Zufalls, schließen diesen jedoch nicht aus. Um den Einfluss des Zufalls abschätzbar zu machen, weist der Atlas nicht nur Kennzahlen aus, sondern auch, wie sicher diese Werte sind. Je nach Kennzahl wird die statistische Unsicherheit unterschiedlich dargestellt:
Für die mithilfe statistischer Glättung berechneten SIR-Werte wird ein 95 %-Glaubwürdigkeitsintervall (Credible Interval) angegeben. Dieses Intervall beschreibt den Bereich, in dem der wahre Wert mit 95% Wahrscheinlichkeit liegt – unter den Annahmen des verwendeten Modells und der gewählten Prior Verteilungen (siehe statistische Methoden). Die Intervalle entstehen, indem aus der geschätzten (posterioren) Verteilung der Werte viele Stichproben gezogen werden. Das Intervall zeigt also, welche Werte angesichts der vorhandenen Daten und der Modellparameter am wahrscheinlichsten sind.
Zusätzlich wird bei SIR die PPD (Posterior Probability Difference) angegeben. Sie zeigt, wie sicher es ist, dass ein Wert wirklich vom Landesdurchschnitt abweicht. Ein PPD-Wert von ≥60% wird in diesem Atlas sprachlich übersetzt in die Feststellung, dass der Unterschied zum Landesdurchschnitt statistisch nachweisbar und nicht durch Zufall bedingt ist. Die Festlegung des Schwellenwerts folgt dem australischen Vorbild.
Räumliche Variation ist bei gerade bei kleinräumiger Darstellung wegen der zahlreichen in Betracht zu ziehenden Einflussfaktoren und des nicht zu eliminierenden Zufalls der Normalfall. Der Krebsatlas weist auf unterschiedliche Krankheitslasten hin, ist aber konzeptionell nicht dazu bestimmt und geeignet, den vermuteten Einfluss eines Risikofaktors auf das Krebsgeschehen in einer Region nachzuweisen.
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch das Problem der räumlichen Abgrenzung. Die Glättung, die die Erkennbarkeit der Wirkung von ReBe-übergreifenden Risikofaktoren verbessert, kann die Auswirkungen eines Risikos, das auf eine ReBe beschränkt ist, maskieren. Sofern der begründete Verdacht besteht, dass das Krebsgeschehen durch regional wirkende, insbesondere Umweltrisiken beeinflusst ist, sind gezielte epidemiologische Analysen nach wissenschaftlichen Standards notwendig. Neben den genannten Faktoren berücksichtigen sie weitere Aspekte, z.B. ob sich das Risiko potenziell in der allgemeinen Bevölkerung, oder eher in der Belegschaft eines Unternehmens (einschließlich der Pendler) realisiert, und ob die Arten von Krebs, deren Inzidenz erhöht ist, zur vermuteten Ursache passen. Analysen, die unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, Krebsdiagnosen und Zeiträume betrachten, müssen angemessen mit dem statistischen Problem des multiplen Testens umgehen.
Die Karten im Krebsatlas enthalten die gemeldeten Informationen über alle Einwohnende eines betreffenden Gebiets zusammen. Das Risiko einer Einzelperson ist nur zu einem geringen Grad durch den aktuellen Wohnort beeinflusst, zumal sich dieser im Laufe eines Lebens typischerweise mehrfach ändert; auch insoweit ist die oft lange Latenz zwischen risikoerhöhender Exposition und Erkrankung zu berücksichtigen. Entscheidender ist, dass sich jeder Mensch in zahlreichen Merkmalen vom „Durchschnittsmenschen“ seiner Region unterscheidet. Allein die Berücksichtigung des (vom Landesdurchschnitt abweichenden) Lebensalters hat auf das Erkrankungs- und Mortalitätsrisiko in aller Regel größeren Einfluss als der Wohnort. Ähnliches gilt für das Geschlecht, Krebserkrankungen in der Familie, eigene Vorerkrankungen, berufliche Exposition und Lebensstilfaktoren, insbesondere Rauchen, Alkoholkonsum, Ernährungsweise und Bewegung. Im Vergleich zu diesen Umständen sind wohnortassoziierte Risiken für das individuelle Risiko nahezu vernachlässigbar.
Die Vollzähligkeit der erfassten Neuerkrankungsfälle kann zwischen den Gebieten und für verschiedene Krebserkrankungen variieren. Grundlage für die Vollzähligkeitsabschätzungen sind - die vom Zentrum für Krebsregisterdaten am Robert Koch-Institut (RKI) für jedes Bundesland berechneten erwarteten Fallzahlen. Für wissenschaftlich belastbare Aussagen wird eine Vollzähligkeit von mindestens 90 % vorausgesetzt. Für Niedersachsen und die dargestellten Tumorerkrankungen beträgt sie für alle aufgeführten Zeiträume über 90 %. Für einzelne Gebiete, und Jahre kann die Vollzähligkeit aufgrund von Meldedefiziten unter 90 % liegen.